20 Jahre zuvor …
»Ich kann das nicht, Charles. Nimm sie einfach und lass mich gehen.«
Schweigend beobachtete ich, wie unsere Mom meinem Dad das kleine Bündel in die Arme legte.
»Was meinst du damit, du kannst das nicht? Sie ist deine Tochter, Diana!«
Mom schüttelte den Kopf und Dad drückte sich meine Schwester an die breite Brust.
Ich zog den Kopf weiter ein, als Mom in meine Richtung lief, aber dann vor der Treppe, auf welcher ich saß, noch Halt machte. Sie hatten mich beide noch nicht entdeckt.
»Connor?«, flüsterte mein jüngerer Bruder Wesley und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Der Schlafanzug mit den vielen Feuerwehr-Autos drauf saß irgendwie schief und seine Haare standen in alle Richtungen ab. Langsam kam er aus seinem Zimmer auf mich zu.
»Psst«, flüsterte ich zurück und legte mir den Finger auf die Lippen.
»Geh wieder ins Bett, Wes«, murmelte ich und hoffte, dass wir Miles nicht weckten.
Wesley schüttelte daraufhin aber nur den Kopf und ich zog Wes an der Hand zu mir, damit er sich neben mich setze. »Leise sein«, ermahnte ich ihn und Wesley nickte, schaute ebenfalls nach unten und beobachte unseren Dad und unsere Mom still.
»Diana, verlässt du uns etwa?«, stieß Dad in einem lauten Flüsterton aus, sodass wir es oben an der Treppe trotzdem hören konnten.
»Charlie, du verstehst das nicht. Ich kann das nicht mehr. Die Kinder, die Arbeit, du«, murmelte sie. Dad hielt unsere Schwester Amy weiterhin an seiner Brust geborgen und ging ein Stück auf Mom zu.
»Unser Leben ist dir zu viel?« Dad klang enttäuscht und überrascht. Mom nickte heftig.
»Das ist es. Ich möchte reisen und das Leben genießen. Aber das kann ich hier nicht. Ich kann nicht atmen, ich komme nicht zur Ruhe. Es tut mir leid, Charlie. Aber ich muss einfach gehen.« Die Schuhe meiner Mom klackerten auf dem Boden und sie zog einen Koffer hinter sich her, als sie weiter in Richtung Haustür lief.
»Diana, das kannst du den Jungs nicht antun«, rief Dad ihr hinterher.
»Was macht sie?«, fragte Wesley neben mir, aber ich drückte nur seine Hand. Er verstand nicht, was hier vor sich ging. Ich glaubte zwar auch nicht richtig zu verstehen, was gerade passierte, aber als Mom das Haus verließ und die Tür hinter ihr zufiel, hatte ich das Gefühl ganz genau zu wissen, was sie gerade entschieden hatte.
Dad drehte sich mit unserer Schwester in den Armen um, er schaute sich im Flur um. Sein Blick schien kein genaues Ziel zu verfolgen. Und schließlich landeten seine Augen auf uns beiden.
»Kommt her«, stieß er seufzend aus und ging in die Hocke. Wesleys und meine nackten Füße tapsten über die kalten Treppenstufen auf Dad zu.
»Was ist los, Daddy?«, fragte Wesley leise und Dad nahm uns in den Arm, sobald wir bei ihm angekommen waren. Ich umarmte ihn zurück und legte auch einen Arm um Wes.
»Alles ist gut. Eure Mom muss nur für einige Zeit alleine sein. Macht euch keine Sorgen«, murmelte er und ich warf einen Blick auf das Bündel in seinen Armen. Die Züge von Amy waren entspannt. Sie schlief und dass obwohl Mom und Dad nicht sonderlich leise gewesen waren. Dad hatte aber mal erwähnt das Amy selbst durch einen Güterzug nicht wach werden würde – was auch immer das ist.
Vorsichtig hob ich eine Hand und fuhr über ihre Augenbrauen. Dad erhob sich wieder und ging mit uns in das Wohnzimmer.
»Wieso seid ihr überhaupt noch wach?«, fragte er nach und ich kletterte auf die Couch, dann half ich Wesley beim Hochkommen.
»Wir haben euch reden gehört«, sprach ich und beobachtete aufmerksam, wie Dad mir Amy in den Schoß legte. Unsere Schwester war gerade mal zehn Monate alt und das jüngste Familienmitglied.
»Das tut mir leid, Jungs«, erwiderte Dad und setzte sich auf den Couchtisch vor uns.
Wesley streckte sich zu mir aus und betrachtete Amy.
»Ab sofort sind wir für sie verantwortlich, meint ihr, das kriegen wir hin?«, fragte Dad und blickte von Amy zu uns hoch. Ich musste Dads nachdenklichen Blick nicht sehen, ich hörte ihn anhand seiner Stimme heraus.
Wes und ich nickten augenblicklich.
»Das werden wir, Dad.«
Ich wusste, dass es eine schlechte Idee gewesen war, Dave auf diese Verbindungsparty zu begleiten.
Zuerst einmal fand ich nichts, aber auch überhaupt nichts, spannend daran, mich mit mir völlig fremden Menschen zu betrinken und zu irgendwelchen 08/15-Radio-Hits zu tanzen.
Außerdem hätte mir bewusst sein sollen, dass Dave mich wieder alleine lässt oder wie er es beschrieb, dass wir uns einfach »in der Masse verloren« hatten.
Aber jetzt mal im Ernst, wie konnte man seine Freundin denn einfach so verlieren?
Ich war ihm nicht von der Seite gewichen, auch nicht, als er sich ein Bier geholt hatte und mit seinen Freunden draußen Beer Pong spielen wollte.
Derek und Gavin waren ebenfalls dagewesen, wie auch Riley und Candice. Unsere Freunde, wie Dave behauptete, aber ich war mir nicht so sicher, ob sie mich auch wirklich mochten oder mich einfach nur ertrugen, weil ich mit Dave zusammen war.
Was wir übrigens schon so seit ungefähr sechs Jahren waren. Dave und ich waren auf derselben Middle School und sind mit fünfzehn ein Paar geworden. Auch wenn wir am Anfang noch keinen wirklichen Plan hatten, wie so etwas funktionierte.
Wir haben unsere Jungfräulichkeit am jeweils anderen verloren.
Seitdem waren wir zusammen und nichts konnte uns trennen.
Naja, außer vielleicht die Tatsache, dass er sich mit den Worten: »Ich muss mal kurz aufs Klo«, verabschiedet hatte.
Keine Ahnung was er dort so lange trieb, aber vielleicht hatte sich auch einfach eine Schlange vor dem Bad gebildet. Allerdings war er jetzt auch schon seit knapp zwanzig Minuten verschwunden. Zuerst hatte ich mich einfach zu Riley und Candice gesetzt, beide saßen draußen an dem Gartentisch und hatten den Jungs bei dem Trink-Spiel zugesehen. Aber die beiden redeten die ganze Zeit über die neuen Schlagzeilen eines Promi–Pärchens – also etwas was mich so gar nicht interessierte. Als ich merkte, dass sie auch keine besondere Lust hatten, mich in ihr Gespräch miteinzubinden, war ich aufgestanden und wieder in das Innere des Hauses verschwunden.
Ich zog mein Handy aus der hinteren Hosentasche und sah, dass mir mein ältester Bruder Connor eine Nachricht geschickt hatte:
»Bist du am Sonntag bei Dad wie besprochen?«
Ich musste ein Augenrollen unterdrücken und schickte ihm eine knappe Antwort zurück, dass ich da sein würde.
Dad wohnte in der Nähe von Phoenix und jeden Sonntag gab es ein Frühstück bei ihm zuhause, bei welchem ich und meine drei älteren Brüder erwartet wurden.
Ich war die Letzte, die vor zwei Jahren ausgezogen war, endlich hatte ich es an die Universität von Phoenix geschafft. Es war immer Daves Traum gewesen hier zu studieren – daher war es auch meiner gewesen.
Außerdem bot die Uni auch einen Studiengang in Literatur an, das kam mir gerade recht.
Da Dave sofort bei einer Studentenverbindung eingetreten war, hatte ich mir ein Zimmer im Wohnheim besorgt. Alleine in eine Wohnung zu ziehen, hatte sich einfach nicht richtig angefühlt.
Nächste Woche würde das neue Semester starten und damit bekäme ich auch eine neue Mitbewohnerin, da meine alte nun mit ihrem Studium fertig geworden war.
Hoffentlich würden wir uns gut verstehen.
Connor schickte mir eine weitere Nachricht, allerdings war in dieser nur ein Daumen nach oben enthalten. Ich steckte das Handy wieder weg und warf einen Blick auf die Terrasse, aber ich konnte immer noch keinen Dave entdecken.
Wie lange brauchte denn ein Mensch, um aufs Klo zu gehen?
Ich beschloss nach ihm zu sehen, er hatte schon einige Bier intus und war vielleicht auf der Klobrille eingeschlafen oder kotzte sich die Seele aus dem Leib.
Ich kämpfte mich durch die Studenten, die im Wohnzimmer feierten.
Was zum Teufel feierten sie überhaupt? Dass sie sich ihre Gehirnzellen wegsauften?
Als ich endlich auf der anderen Seite ankam, drängte ich mich an der Wand entlang in Richtung des Badezimmers. Ich kannte mich hier nicht zu einhundert Prozent aus, in den letzten zwei Jahren hatte ich Dave nicht zu oft im Verbindungshaus besucht. Er meinte immer, dass Freundinnen hier nicht so gerne gesehen waren. Das war okay für mich, da ich auch nicht sonderlich scharf darauf war in einem Haus zu sein, in dem der Männerschweiß aus allen Ecken kroch. Außerdem hatten es die Jungs auch nicht so mit Sauberkeit.
Als ich an der Badezimmertür ankam, zog ich die Augenbrauen verwirrt zusammen. Das Bad war leer und das Licht angeschaltet, aber es standen weder Menschen an, noch befand sich jemand drinnen. Ich versuchte über die vielen Studenten hinweg wieder zum Garten zu sehen, vielleicht hatten wir uns auch einfach nur verpasst?
Aber es war chancenlos, es waren viel zu viele Leute da und ich war zu klein, um über jeden hinweg zu sehen. Ich sah zu der geraden, breiten Holztreppe neben dem Badezimmer, welche nach oben zu den Zimmern der Verbindungsbrüder führte. Dann sehe ich eben in seinem Zimmer nach und wenn ich ihn da nicht finden würde, dann wollte ich einfach dort auf ihn warten. Ich hatte überhaupt keine Lust mehr, mich unter die Menschenmenge zu mischen und mich so vollkommen verloren zu fühlen.
Als ich die letzte Treppenstufe erklommen hatte, kam mir ein bekannter Junge entgegen. »Hey, du bist doch Amy, oder?«
Ich musterte ihn und zog die Augenbrauen ein weiteres Mal zusammen.
Woher kannte ich ihn denn nochmal?
Verdammt, ich musste mir unbedingt Gesichter und Namen merken.
»Ja?«, murmelte ich und der brünette Kerl, dessen ungleichmäßig über dem Kopf ausgebreiteten Locken mich an meinen Bruder erinnerten, grinste mich an. Er neigte den Kopf zur Seite.
»Du erinnerst dich nicht, oder? Ich bin Kade, wir haben uns auf der letzten Verbindungsparty kurz gesehen. Eine meiner Freundinnen, Hazel, die mit den roten Haaren, hat dich vor so einem Arschloch bewahrt.«
Jetzt fiel es mir wieder ein. Vor wenigen Wochen hatte mich Dave auch schon auf eine Verbindungsparty geschleppt und auch auf dieser hatte ich ihn verloren und einfach nicht mehr wiedergefunden. Als ich mich dann dazu entschieden hatte, einfach draußen auf ihn zu warten, war ein sehr betrunkener und sehr ekelhafter Student auf mich zugekommen und hatte mich angemacht. Er war mir dabei so auf die Pelle gerückt, dass ich seinen nach Alkohol riechenden Atem ins Gesicht bekommen hatte. Bei der Vorstellung war mir immer noch nicht ganz wohl.
Ein Mädchen mit wirren roten Haaren hatte ihn von mir weggezogen und mich ins Haus zurück bugsiert. Als der Typ aber auch ihr zu sehr auf die Pelle gerückt war, hatten sich ihre Freunde eingemischt. Kade war einer dieser Freunde gewesen, gemeinsam hatten sie das Ekelpaket in die Flucht geschlagen.
»Stimmt, entschuldige«, nuschelte ich stammelnd.
Aber Kade winkte nur ab. »Alles gut, auf einer Party lernt man immer viele Leute kennen. Wo willst du denn hin?«, fragte er.
»Zu meinem Freund. Dave Hewitt. Er hat am Ende des Flurs ein Zimmer«, meinte ich und deutete auf die rechte Seite des Ganges.
Kade riss die Augen auf. »Dave ist dein Freund?«
Verwirrt nickte ich. »Ja, wieso?«
»Weil er ein Arsch ist. Ich bin in derselben Verbindung wie er, glaub mir ich weiß es.«
Jetzt riss ich die Augen auf und fing an, an meinen Fingern herumzuspielen.
»Oh«, ich räusperte mich. »Ähm … nun er ist nicht immer so«, stotterte ich und plötzlich fand ich dieses Gespräch furchtbar unangenehm.
»Sicher?«, fragte Kade nach und kniff die Augen zusammen.
»Ja!«, erwiderte ich sofort. Vielleicht auch etwas zu schnell.
Kade zuckte mit den Schultern. »Okay, alles klar. Aber wenn etwas sein sollte, sag einfach Bescheid.«
Dankend nickte ich und versuchte mich an einem Lächeln, aber so richtig bekam ich es nicht hin.
Kade ging um mich herum und lief die Treppe runter. »Man sieht sich.«
Ich atmete tief durch, seine Worte blieben in meinem Kopf hängen. Dave war … war sehr polarisierend. Nicht jeder verstand sich mit ihm und nicht jeder fand ihn sympathisch. Aber so war er nun mal, schon in der Schule war er derjenige, der auffiel. Egal, ob er zu laut im Unterricht war oder unfreundlich gegenüber anderen Schülern.
Aber zu mir war er so nie gewesen, wir kannten uns schon seitdem wir klein waren und als wir fünfzehn wurden führte eins zum anderen.
»Okay«, murmelte ich eher zu mir und motivierte mich somit selber, einfach weiterzugehen.
Ich lief an den anderen Zimmertüren entlang und kam schließlich vor Daves an. Ich klopfte nicht, sondern griff sofort nach der Klinke und drückte sie herunter. Anscheinend war das ein Fehler, denn als ich die Tür öffnete, bot sich mir ein Bild, dass ich lieber nicht gesehen hätte.
Mit geschlossenen Augen saß Dave auf der Bettkante, er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und ein entspannter Ausdruck ruhte auf seinem Gesicht. Seine Jeans war nach unten auf die Fußknöchel gerutscht oder eher gezogen worden. Vor ihm kniete ein Mädchen. Ich kannte sie nicht und ich wollte es auch gar nicht. Denn sie hatte den Schwanz meines Freundes im Mund. Ein tiefes Keuchen erklang, als sie anscheinend eine ganz tolle Stelle erwischt hatte.
Ich zuckte bei dem Geräusch zusammen. Er ließ sich gerade allen Ernstes von einem anderen Mädchen einen blasen, obwohl er ganz genau wusste, dass ich unten war. Das ich, seine blöde Freundin, unten auf ihn wartete. Erst als ich mich selber schniefen hörte, spürte ich, dass mir die Tränen über die Wange rollten.
War ich ihm wirklich so wenig wert? Waren ihm meine Gefühle so egal?
Das hier passierte doch gerade nicht wirklich. Sechs Jahre Beziehung schmiss er einfach so weg?
Mein Schniefer riss Dave anscheinend aus seiner Entspannung heraus, denn er öffnete die Augen und sah zur Tür hinüber. Zu mir hinüber.
Sofort riss er die Augen weiter auf und legte eine Hand auf den Kopf des Mädchens vor ihm. Die nahm es allerdings eher als Ansporn weiterzumachen. Dave riss sie an den Haaren zurück und von sich. Ich verzog das Gesicht bei dem Anblick, dass er so grob mit ihr umging. Aber ich konzentrierte mich nicht weiter auf sie, sondern wieder auf ihn. Dave stand sofort auf und schloss seine Hose wieder, ehe er einen Schritt auf mich zu ging.
Aber ich konnte mich nicht bewegen, ich denke, ich konnte nicht mal mehr vernünftig atmen oder nachdenken. Irgendwie rauschte alles an mir vorbei und der Punkt, auf den ich mich versuchte zu konzentrieren, schien zu verschwimmen.
Meine Hand glitt von der Türklinke. Das Mädchen auf den Boden richtete sich auf, aber meine Augen schossen wieder zu ihm. Zu dem Jungen, den ich glaubte zu lieben, der mich auch liebte.
Zumindest hatte er mir das gesagt – hatte er etwa gelogen?
Wie oft hatte er mich schon belogen?
Wie lange ging das hier alles überhaupt schon?
War er etwa auf der letzten Party, als ich ihn nicht mehr finden konnte, auch mit ihr in eine Ecke verschwunden? Oder mit einer anderen?
Mir wurde schlecht und schwindelig und die Tränen liefen mir immer noch die Wangen herunter. Er trat einen Schritt auf mich zu, sagte etwas, aber ich hörte ihn gar nicht.
Es fühlte sich an, als hätte ich Watte in den Ohren. Alles war gedämpft. Alles außer meine Gedanken, die rasten laut durch meinen Kopf.
»Wie lange?«, flüsterte ich, sah ihm fest in die Augen. Daves Adamsapfel bewegte sich stark, als er immer wieder schluckte und offensichtlich nach einem Ausweg suchte.
»Wie lange Dave? Sag mir die Wahrheit. Ich bin so oder so weg.«
Er rieb sich das Gesicht und fuhr durch seine hellen Haare, früher hätte mich das Spiel seiner Muskeln wahnsinnig angemacht, jetzt wollte ich am liebsten auf seine Füße kotzen.
Seufzend trat er einen weiteren Schritt auf mich zu und endlich konnte ich mich bewegen und ging einen Schritt zurück, schüttelte den Kopf.
»Etwa zwei Monate«, hauchte er und ich glaubte erst, mich verhört zu haben. Zwei Monate? Seit zwei Monaten hinterging er mich. Log und betrog mich.
»Wissen es die anderen?«, fragte ich leise und wappnete mich schon auf die Antwort.
Er nickte.
Mein Magen schlug Saltos und ich schloss die Augen. Nicht nur er, sondern alle anderen hatten mich angelogen. Ich trat einen weiteren Schritt zurück. Strich mir über die Wangen, aber es nützte nichts, da die Tränen immer weiterliefen.
»Ich will nie wieder etwas von dir hören. Rede nicht mit mir, berühr mich nicht, schreib mir nicht. Wir sind fertig miteinander«, sprach ich und ehe ich ihn noch einmal ansehen konnte, drehte ich mich um und lief den Flur wieder zurück Richtung Treppe. Im Laufschritt stieg ich die Stufen hinunter und ging durch die offene Eingangstür. Dave folgte mir nicht. Gott Sei Dank, denn wenn er versucht hätte mich aufzuhalten, hätte ich eine riesige Szene veranstaltet und es wäre mir wirklich egal gewesen, wer uns dabei zugesehen hätte.
Ich lief durch den Vorgarten, die Studenten um mich herum beachteten mich nicht, genauso wie ich sie auch nicht beachtete.
Ein Ziel hatte ich nicht, daher ließ ich mich kurzerhand einfach auf den Bürgersteig vor dem Haus fallen, legte das Gesicht in meine Hände und zog die Knie an. Das durfte doch alles nicht wahr sein. Schluchzend richtete ich meinen Blick wieder auf und wischte mir über die Augen, die fürchterlich brannten.
Ich musste wieder zurück zum Wohnheim, allerdings war es schon spät und dunkel, zu Fuß brauchte ich circa dreißig Minuten. Dave hatte mich am frühen Abend abgeholt, daher hatte ich mein Auto nicht hier. Ich könnte meinen Bruder Miles anrufen.
Miles ging an das College in Prescott und wohnte in der Nähe, sicher hätte er nichts dagegen, wenn ich ihn anrufen würde. Aber wie sollte ich ihm das alles erklären?
Wie sollte ich ihm erklären, dass ich so naiv gewesen war, mich in jemanden zu verlieben, der mich zwei Monate lang betrogen hatte?
»Hey, ist alles okay bei dir?«
Bevor ich mir weiter Gedanken über meinen Nachhauseweg machen konnte, näherte sich ein Junge von der Seite. Ich schniefte ein letztes Mal leise auf und wischte mir die restlichen Tränen von den Augenwinkeln ab. Als ich meinen Kopf zur Seite drehte, sah ich den Typ, er war bestimmt nicht viel älter als ich. Seine dunklen, fast schwarzen Haare lagen durcheinander auf seinen Kopf und die eisblauen Augen sahen mich freundlich an. Auch ihn kannte ich irgendwoher – nur wusste ich wieder mal nicht von wo.
Als ich merkte, dass ich ihm nicht geantwortet, sondern nur angestarrt hatte, räusperte ich mich schnell. »Ähm … Ja, klar. Danke, alles gut.«
Er kam ein Stück auf mich zu und sah sich um, bevor er sich neben mich auf den Bürgersteig fallen ließ.
»So siehst du aber nicht aus«, meinte er und beugte sich etwas nach vorne, um mir ins Gesicht zu sehen. Ich zuckte nur mit den Schultern. Egal, wie gut er auch aussah, ich hatte jetzt keine Lust, mich mit einem Betrunkenen zu unterhalten.
»Okay, also ich bin Ethan und du bist?«
Freundlich streckte er mir seine Hand entgegen.
Ich sah seine Hand an und war kurz verwirrt. Wollte er jetzt wirklich Small Talk mit mir führen? Aber Ethan hielt seine Hand weiter zu mir ausgestreckt – okay, das Ganze wurde gerade noch unangenehmer.
»Amy«, nuschelte ich schließlich und umschloss seine Hand mit meiner. Leicht schüttelte er sie.
»Freut mich Amy, also sag mir welchen Kerl ich vermöbeln soll und ich tu es«, grinste er und ließ meine Hand schließlich wieder los.
Ich biss mir auf die Unterlippe und fuhr mir mit den Händen übers Gesicht bis zu meinem Pony, um ihn wieder zu richten, da er wahrscheinlich in alle Richtungen wild abstand. Seine Worte ließen mich leicht lächeln und Ethan jubelte: »Ha! Ein Lächeln, das sieht schon viel besser aus als diese traurige Miene.«
Ich betrachtete ihn noch einen kurzen Moment und ließ den Blick dann nach oben zum Sternenhimmel wandern.
»Was machst du hier draußen ganz alleine, Amy?«, fragte er wieder und jetzt fiel mir auch auf, dass er überhaupt nicht betrunken klang. Ich zuckte mit den Schultern.
»Mich vor meinen Freund verstecken, nehme ich an.«
»Deinem Freund?«
»Ex-Freund«, korrigierte ich mich und blickte auf meine Armbanduhr. »Seit ungefähr fünf Minuten.«
Ethan nickte verstehend. »Also hat er dich zum Weinen gebracht?«, sprach er sanfter aus und als ich eine Berührung an meinem Ellenbogen spürte, fuhr ich zusammen.
Ich nickte bloß und schloss die Augen, als ich wieder dieses Brennen spürte. Ich wollte auf keinen Fall wieder anfangen zu heulen. Nicht vor einem völlig Fremden.
»Dann hat dich dieser Arsch nicht verdient und er hat es auch nicht verdient, dass du dir wegen ihm eine Erkältung zuziehst«, meinte er und er hatte recht. Es war immer noch relativ frisch in Phoenix und mein Pullover hielt die Kälte nicht wirklich von mir ab.
Als ich ihm nicht antwortete, zog Ethan die Augenbrauen zusammen und stand auf. Ich dachte schon, er hätte jetzt genug von mir gehabt, schließlich musste er sich nicht mit meinen Problemen befassen. Aber Ethan stand bloß auf und zog den Reißverschluss seines Sweatshirts auf. Er streifte den Pullover ab und legte ihn mir um die Schultern. Nur mit einem Langarmshirt bekleidet, ließ er sich wieder neben mir nieder.
»Du musst nicht –«
Aber er unterbrach mich. »Du bist ein Mädchen und du frierst, glaub mir, ich muss. Ich will.«
Ich zog die Jacke enger um mich. Dave hatte mir nie seine Jacke geliehen, wenn mir kalt wurde, er bot mir auch nie an reinzugehen. Stattdessen hatte er mich nur darauf hingewiesen, dass ich mich ja wärmer hätte anziehen können. Damit hatte ich das Thema dann meistens fallen gelassen.
»Danke«, stotterte ich, immer noch völlig überrascht von der für mich ungewohnten Geste. Ethan lächelte mich vorsichtig an. »Also Amy, weißt du, was die beste Methode ist, um über einen Kerl hinweg zu kommen?«
Verwirrt schüttelte ich den Kopf und murmelte ein leises: »Nein.«
»Mit einem anderen Kerl rummachen«, antwortete Ethan rasch und klang sehr überzeugt von sich selbst. Ich warf ihm aber nur einen schnellen Blick zu und schüttelte wieder verneinend den Kopf.
»Warte, du denkst nicht richtig darüber nach«, meinte er und legte mir die Hand auf den Rücken, diesmal zuckte ich nicht zusammen.
»Ich werde dich nicht küssen, Ethan«, sprach ich leise und sah wieder nach oben und suchte nach dem einzigen mir bekannten Sternzeichen – dem kleinen Wagen.
»Wer sagt denn, dass du mich küssen sollst? Es gibt noch genügend andere Studenten.«
Ich warf ihm einen noch verwirrteren Blick zu.
»Okay, ja du hast Recht. Es wäre eine ganz fantastische Idee mich zu küssen«, grinste er breit.
»Glaub mir danach fühlst du dich um Längen besser«, fuhr er fort.
Seufzend sah ich ihn wieder an, nachdem ich keine Ahnung hatte, wo sich der kleine Wagen befand. Ich betrachtete ihn einen Augenblick und seine blauen Augen zogen mich in einen unerklärlichen Bann. Kein Plan, was mich dabei ritt, als ich das nächste Wort aussprach.
»Okay, versuchen wir es.«
Überrascht riss er die Augen auf und auch ich fühlte mich irgendwie von mir selbst überrumpelt.
»Okay«, schoss es aus Ethan heraus und ich drehte mich mit dem Oberkörper zu ihm.
»Dann soll ich einfach?«, fragte Ethan und sein Blick flog zu meinen Lippen.
»Küss mich einfach, Ethan«, sagte ich leise und er zögerte keinen Moment.
Innerhalb eines Atemzuges hatte er sich nach vorne gelehnt und seinen Mund auf meinen gelegt. Meine Augen flattern wie von alleine zu. Ein kurzer Stromstoß floss durch meinen Körper und ich neigte den Kopf etwas zur Seite, um ihn besser zu spüren. Ethan entkam ein kleiner Seufzer und seine Hand legte sich um meinen Nacken. Mit meinen Händen hielt ich weiter seine Jacke um meinen Körper geschlossen.
Sachte lösten wir uns wieder voneinander und ich öffnete vorsichtig die Lider.
Ethan beobachtete mich aufmerksam.
»Und hat es geholfen?«, flüsterte er. Seine hellblauen Augen beobachteten mich aufmerksam. Schließlich schüttelte ich langsam den Kopf. »Nein, ich denke eher nicht.«
»Oh, bin ich so ein schlechter Küsser?«, fragte er und ein leichtes Lächeln legte sich auf seine Lippen, welche sich herrlich gut auf meinen angefühlt hatten. Allerdings waren der Schmerz und die Erinnerung an Dave mit dieser anderen nicht verschwunden. Sie trafen mich stattdessen erneut.
»Das ist es nicht«, antwortete ich ihm auf seine Frage und meine Lippen verzogen sich leicht zu einem Lächeln.
»Also Amy, wie gedenkst du denn nachhause zu kommen?«, wechselte er das Thema.
»Ich denke, ich rufe meinen Bruder an. Er wohnt in der Nähe von Prescott und würde mich sicher abholen und in das Wohnheim bringen«, meinte ich.
Ethan sah mich verdutzt an. »Prescott liegt doch über eine Stunde entfernt.«
»Er wohnt weiter außerhalb und wäre schneller hier.«
Ethan schüttelte den Kopf. »Mein Wagen steht direkt da drüben und ich habe keinen Alkohol getrunken, ich bring dich zurück zum Wohnheim.«
»Oh, du musst nicht –«
Wieder unterbrach er mich. »Das Thema hatten wir doch schon. Ich muss nicht. Ich will dich zurückbringen. Komm schon«, meinte er und stand in einer flüssigen Bewegung auf, hielt mir seine Hände entgegen.
Ich überlegte einen kurzen Moment und atmete einmal tief durch.
Schließlich ergriff ich seine Hände.
Keine Ahnung, warum ich tat, was ich gerade tat. Normalerweise war das hier nicht wirklich mein Ding. Ich kümmerte mich üblicherweise nicht um weinende Mädchen, die vor einem Verbindungshaus auf dem Boden saßen. Wenn meine Freunde mich so sehen würden, würden sie wahrscheinlich mit dem Kopf schütteln und mich fragen, ob mit mir alles in Ordnung wäre, oder ob ich mir eine neue Masche überlegt hatte. Ich war eher dafür bekannt, das Bett zu wechseln wie meine Unterwäsche und das war völlig okay für mich. Ich liebte das Leben wie ich es führte.
Einer meiner besten Freunde, Cole, hatte die Liebe fürs Leben gefunden und das war schön. Aber für mich war dieses Leben nichts. Ich brauchte nichts Festes. Ich wollte keine ernste Beziehung mehr.
Dennoch erschütterte mich der Anblick von dem Mädchen mit den kastanienfarbenen Haaren. Ihre Wangen und Augen waren ganz rot vom Weinen und Reiben, sie hatte fürchterlich gezittert.
Ich kannte dieses Gefühl nur zu gut und ich hatte nicht vor es noch einmal zu durchleben.
Keiner sollte das müssen.
Als ich mich neben sie gesetzt habe, erkannte ich sie wieder. Vor ein paar Wochen hatte ich sie schon einmal gesehen, damals hatte irgendein Typ sie auf einer Party angemacht. Aber viel mehr bekam ich nicht von ihr mit.
Der Pony hing ihr in den Augen und immer wieder strich sie ihn aus dem Gesicht und legte ihn wieder ordentlich über ihre Stirn. Sie kräuselte auch jedes Mal die Nase, wenn ich etwas zu ihr sagte, und das Einzige was mir darauf einfiel war: Süß.
Und normalerweise fand ich Mädchen nicht süß. Ich fand sie alles Mögliche, aber ganz sicher nicht süß. Amy aber war es.
Deshalb war der Vorschlag mit dem Kuss auch keine meiner Maschen gewesen, ich wollte sie einfach aufmuntern. Das Glitzern in ihren Augen sollte verschwinden und dafür ein Lächeln auf ihre Lippen Platz finden.
Nachdem ich sie auf die Beine gezogen hatte, fasste ich die Seiten meines Sweatshirts, welcher immer noch auf ihren Schultern lag und zog sie vorne wieder zusammen. Ihr Blick hatte mich verwundert, als ich ihr die Jacke gegeben hatte. Immerhin war sie bis eben noch in einer Beziehung gewesen.
Aber egal welchen Ruf ich bezüglich meiner nächtlichen Aktivitäten auch genoss, ich war in einem guten Haushalt aufgewachsen und hatte eine anständige Erziehung genossen. Außerdem hatte ich eine ältere Schwester und Ashley hätte es wahrscheinlich nicht so gut gefunden, wenn ich Amy einfach weiter hätte frösteln lassen. Vielleicht war das der Grund, wieso ich ihr helfen wollte. Vielleicht aber auch, weil sich etwas in meiner Brust geregt hatte, das mich stark an früher erinnerte. Damals, als ich diese Art von Gefühlen noch zugelassen habe.
»Okay, dann bringen wir dich mal zurück ins Wohnheim«, sagte ich sanft und legte ihr eine Hand auf den unteren Rücken, als ich sie langsam in Richtung meines Jeeps schob. Zögerlich nickte sie und strich sich eine Strähne hinters Ohr.
Ich öffnete die Tür und half ihr beim Einsteigen, da der Jeep etwas höher war. Sie nuschelte ein sanftes Danke und ich ging um das Fahrzeug herum, ehe ich mich neben sie gleiten ließ.
Normalerweise hätte ich mir heute mit Leith und Kade die Birne weggesoffen, aber aus irgendeinem mir unerklärlichen Grund war mir nicht danach zu trinken.
Bevor ich den Motor starten konnte, klingelte mein Handy und ich zog es hervor.
»Hey Leith«, nahm ich den Anruf entgegen.
»Ethan, wo steckst du?«, brüllte er in den Hörer, um die laute Musik zu übertönen. Offensichtlich war er immer noch im Haus.
»Ich bin auf den Nachhauseweg«, meinte ich und Leith gluckste.
»Schon wieder eine abgeschleppt? Mann, du lässt aber auch nichts anbrennen.« Ich verdrehte die Augen.
»Gute Nacht, Leith.«
Mit diesen Worten legte ich auf und ließ das Handy in den Getränkehalter gleiten.
Kurz warf ich einen Blick zu Amy hinüber, aber sie blickte stumm aus dem Fenster.
Ich startete den Motor und lenkte den Jeep auf die Straße, welche zum Wohnheim führte.
»Ich … Äh … also ich werde nicht mit dir schlafen. Ich meine, nur weil wir uns geküsst haben, heißt es ja noch lange nicht, dass wir miteinander in die Kiste steigen«, stammelte sie und lehnte sich fester gegen ihren Sitz. Ein verwirrter Ausdruck huschte über mein Gesicht und ich blickte kurz zu ihr hinüber, bevor ich wieder auf die Straße sah.
»Süße, ich werde nicht mit dir schlafen. Zumindest nicht, wenn du es nicht willst.« Schelmisch grinste ich sie an und zufrieden beobachtete ich, wie ihre Mundwinkel zuckten.
»Ich habe das Telefonat mitgehört, aber es war auch schwer zu überhören, weil … also, weil er so laut gesprochen hat«, murmelte sie und ich musste grinsen.
»Leith war nur betrunken, seine Worte waren Schwachsinn. Ich bringe dich nur nachhause, Amy, versprochen. Du bist hier sicher«, sagte ich mit fester Stimme und sah nochmal kurz zu ihr, mittlerweile hatte sie sich mir zugewandt.
»Okay«, hauchte sie leise.
»Okay«, erwiderte ich und grinste sie nochmal an. »Aber wie gesagt, außer du willst es.« Ich zog eine Augenbraue hoch und mein Lächeln wurde breiter, als der Klang ihres Lachen den Innenraum des Jeeps erfüllte.
»Danke, Ethan. Aber nein danke.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Na gut, aber lass mich dir eins sagen: Du verpasst was.«
»Ich denke, darauf lasse ich es ankommen.«
»Ganz wie du willst.«
Für ein paar Minuten hüllte uns ein Schweigen ein, Amy sah wieder aus dem Fenster und ich konzentrierte mich auf die Straße vor uns.
»Was studierst du?«, fragte sie schließlich leise.
»Business Administration. Damit kann ich mich am besten schnell selbstständig machen, ich absolviere danach noch ein paar Seminare im Bereich Finanzen«, antwortete ich ihr und setzte den Blinker, als wir in die Straße einbogen, in welcher das Wohnheim der Universität lag.
»Und du?«, fragte nun ich nach und Amy sah zu mir hinüber.
»Englische Literatur, am liebsten möchte ich später selbst Schriftstellerin werden oder in einem Verlag arbeiten oder auch in einer Bibliothek. Hauptsache irgendwas mit Büchern.«
»Schreibst du denn schon selbst?«
Amy zog die Augenbrauen zusammen und drehte sich wieder weg. »Schon, allerdings ist das noch nichts richtiges.«
»Wieso nicht?«
»Weil … weil es noch nicht fertig ist, außerdem glaub ich nicht, dass es gut genug sein wird«, murmelte sie und ich konzentrierte mich kurz, als ich den Wagen in eine freie Parklücke direkt vorm Eingang des Wohnheims lenkte.
»Das glaube ich nicht«, antworte ich schließlich und zuckte mit den Schultern, stellte den Motor aus und betätigte die Handbremse.
»Dave fand immer, dass ich nur Blödsinn produziere«, nuschelte sie etwas unverständlich. Ich stützte die Arme auf der Mittelkonsole ab und lehnte mich näher an sie.
»Hat er je etwas gelesen?«
Amy schüttelte den Kopf, dann nickte sie wieder.
»Früher hat er mal etwas gelesen und fand es nicht gut. Das ist aber schon ein paar Jahre her, danach habe ich ihm nichts mehr gezeigt«, erwiderte sie.
Verständlich. Ich nickte. »Tja, wenn ich nicht sowieso schon denken würde, er wäre ein Arsch, dann spätestens jetzt«, murrte ich. »Wie lange wart ihr zusammen?«, fragte ich mit gesenkter Stimme.
Amy holte tief Luft und legte den Kopf seitlich in meine Richtung an die Kopfstütze. »Knapp sechs Jahre. Wir sind mit fünfzehn zusammengekommen.«
»Das ist lang.«
Seufzend schloss Amy die Augen. »Ja, das war es.«
Und ich wusste nicht ganz, was ich mir dabei dachte, als ich meine Hand ausstreckte und ihr den Pony aus den Augen strich. Dabei berührte ich mit den Fingerspitzen leicht ihre Stirn. Ihr Atem stockte.
»Du hast etwas viel Besseres verdient und ich hoffe, das wird dir bald bewusst werden.« Ich berührte noch ihre Schläfe, zog meine Hand dann wieder zurück.
Schluckend nickte sie und richtete sich auf.
»Danke für das nachhause fahren. Das wäre wirklich nicht nötig gewesen.«
Ich bedachte sie mit einem gespielt bösen Blick.
»Ich weiß, dass du nichts dagegen hattest, mich zu fahren. Trotzdem Danke. Das war sehr … sehr zuvorkommend von dir«, stammelte sie und lächelnd beobachtete ich, wie ihre Wangen einen leichten rosa Ton annahmen.
»Gute Nacht, Amy«, flüsterte ich und beugte mich zu ihr, hauchte ihr einen leichten Kuss auf die Wange. Das Rosa verdunkelte sich.
Als ich mich wieder zurücklehnte, öffnete sie die Tür und stieg aus.
»Gute Nacht, Ethan.«
Ich verbrachte die halbe Nacht noch mit weinen, die andere Hälfte mit schlafen.
Trotzdem fühlte ich mich am nächsten Tag, als hätte mich erst ein Laster überfahren und dann ein Zug überrollt. Egal wie sehr ich mich bemühte, die Augenringe abzudecken, ich sah völlig fertig aus. Dennoch raffte ich mich auf und zog mich fertig an. Ich wollte mich irgendwie ablenken und die beste Methode dafür war nicht irgendeinen Typen zu küssen, sondern in die Bibliothek der Universität zu verschwinden und zu lernen.
Ich konnte immer noch nicht glauben, dass ich Ethan einfach erlaubt hatte mich zu küssen – und vor allem, dass ich es erwidert und sogar genossen hatte. Trotzdem musste ich bei dem Gedanken daran schmunzeln. Er hatte mich damit für wenige Sekunden definitiv abgelenkt, daher war die Idee nicht unbedingt schlecht gewesen.
Die Bibliothek lag auf der gegenüberliegenden Seite des Campus.
Außer mir waren nur wenige weitere Studenten anwesend, wahrscheinlich weil viele besseres zu tun hatten, als an einem Samstag zu lernen.
Ich suchte mir eine ruhige Ecke und zog meinen Laptop und meine Unterlagen hervor.
Genau eine Stunde und siebzehn Minuten versuchte ich mich auf die blöden BWL-Aufgaben zu fokussieren. Jedes Mal wenn ich versuchte mich zu konzentrieren wanderten meine Gedanken zu gestern Abend. Zu Dave und diesem Mädchen. Zu dem Bild, das sich mir gestern darbot, das einfach nicht mehr aus meinem Kopf verschwinden wollte.
In diesen Momenten zwang ich mich noch mehr, mich auf die Aufgaben zu konzentrieren.
Ich versuchte den Schmerz des Verrates und der Lügen auszublenden. Versuchte sie in die hinterste Ecke meiner Gefühle zu schieben. Aber dennoch kam ich nicht dagegen an. Ich biss die Zähne zusammen und schloss für einen Moment die Augen.
Ich musste mich irgendwie ablenken. Daher schob ich den ganzen BWL-Quatsch einfach zur Seite und zog den Laptop näher an mich heran. Ich klickte auf das letzte Dokumente, das ich benutzt hatte, und die ersten Seiten meines Romans »The Weight of Your Love« öffneten sich.
Sofort schrieb ich wild darauf los, die Geschichte von Heather und Evan hatte ich vor circa drei Monaten begonnen und ich schrieb so oft daran weiter, wie es mir möglich war. Dave wusste davon nichts – nicht mehr zumindest. Er verstand nicht, wie gut mir das Schreiben tat, wie viel Spaß ich daran hatte und wie schön es war, mal in eine Welt abzutauchen, welche nicht zu einhundert Prozent der Realität entsprach. Eine Welt, in der diese Art von Schmerz, wie ich ihn gerade durchlebte, nicht existierte. Eine Welt, in der der Junge dem Mädchen seine Jacke anbot.
In letzter Zeit hatte ich nicht wirklich viel geschrieben, zu viel war ich mit Dave unterwegs gewesen, aber das würde sich ab jetzt ändern. Ich würde mir die Zeit dafür nehmen. Meine Prioritäten anders setzen.
Völlig vertieft in meinem nächsten Kapitel merkte ich gar nicht, wie mein Handy öfters vibrierte. Nach circa einer Stunde lehnte ich mich zufrieden zurück. Dieses Kapitel bereitete alles auf das erste Zusammentreffen der beiden Hauptfiguren vor und es gefiel mir sehr gut.
Seufzend streckte ich die Finger aus, welche langsam wehtaten.
Als ich aufstand und meine Sachen wieder in meine Tasche packte, zog ich mein Handy aus der Seitentasche und sah die beiden verpassten Anrufe von Wesley.
Auf den Weg aus der Bibliothek wählte ich seine Nummer und es dauerte nur wenige Sekunden, bis er abhob.
»Hey Kleine, wo hast du gesteckt?«, erklang seine tiefe Stimme am anderen Ende der Leitung.
»Hi Wes, ich war in der Bibliothek. Was gibt’s?«, fragte ich und schob den Riemen meiner Tasche höher auf meine Schulter.
»Darf ein Bruder etwa seine kleine Schwester nicht einfach so anrufen?«
Seufzend verdrehte ich die Augen.
»Natürlich darfst du das, Wesley«, murmelte ich und wich einer Studentin aus, die es anscheinend sehr eilig hatte.
»Aber ich rufe tatsächlich aus einem bestimmten Grund an.« War ja klar. »Fährst du morgen zu Dad?«
Ich hörte das laute Geräusch von Maschinen im Hintergrund. Anscheinend war er am Arbeiten.
»Warum fragt mich das jeder? Connor hat mir auch schon eine Nachricht geschickt. Natürlich bin ich morgen da, so wie jeden Sonntag«, murmelte ich und zog meine Schlüsselkarte für das Wohnheim hervor. Aber ich steckte sie wieder ein, drehte mich dann doch noch um und beschloss, mir beim Coffee Shop noch einen Iced Karamell Macchiato zu gönnen.
»Was weiß ich, was Connor macht. Auf jeden Fall: Könntest du mich vielleicht morgen mitnehmen? Mein Auto ist in der Werkstatt und erst nächste Woche fertig«, sprach er und ich blieb in der Nähe des Cafés an einen Baum gelehnt stehen, um mit ihm zu Ende zu telefonieren.
»Wie ist denn das passiert?«, fragte ich verdutzt. Normalerweise ist Wesley der handwerklich begabte von uns vieren. Während Connor sich relativ schnell für einen sicheren Job bei einer Versicherung entschieden hatte und Miles einen Studiengang in Chemie belegte, war Wes eher derjenige gewesen, der sich gerne die Hände dreckig machte.
»Mir ist jemand beim Parken reingefahren, hat mir den Kühler zerhauen. Jetzt dauert die Reparatur etwas.«
»Oh je, Ist bei dir alles okay?«
Wenn jemand wirklich den Kühler beschädigt hatte, musste er mit ordentlich Rums gegen seinen Wagen geprallt sein.
»Ja, Kleine. Ich saß nicht drinnen, sondern war einkaufen«, antwortete er.
»Also kannst du mich jetzt morgen mitnehmen?« Wesley wohnte ebenfalls nicht weit weg von mir und die Fahrt zu ihm würde kein riesiger Umweg sein – also natürlich würde ich ihn abholen.
»Ich bin um neun bei dir.«
Ich stieß mich von dem Baum ab.
Bevor ich auflegte, räusperte Wesley sich und murmelte: »Kommst du alleine oder bringst du deinen komischen Freund mit?«
Meine Brüder mochten Dave noch nie.
Allerdings hatte Dave auch nie versucht, sich mit den dreien anzufreunden. Seufzend öffnete ich die Eingangstür zum Coffee Shop. Die kleine Glocke an der Tür gab ein leises Klingeln von sich.
»Ich komme alleine«, nuschelte ich und kniff die Augen zusammen, um das Bild, welches sich mit gestern noch geboten hatte, wieder aus meinem Kopf zu bekommen.
Ich spielte kurz mit dem Gedanken, Wes von unserer Trennung zu erzählen, ließ es dann aber doch bleiben. Lieber würde ich es ihnen persönlich sagen, sodass ich sie zur Not davon abhalten konnte, einen Mord zu begehen.
»Okay gut. Bis dann, Amy. Hab dich lieb«, sprach er und meine Mundwinkel verzogen sich zu einem kleinen Lächeln. »Hab dich auch lieb, Wesley.«
Die nette Frau hinter der Theke lächelte mich bereits freundlich an und ich packte schnell das Handy weg. Ich bestellte einen großen Iced Karamell Macchiato und machte mich diesmal wirklich auf den Weg zurück in mein Zimmer. Ich würde den restlichen Tag mit einer Folge nach der anderen von meiner Lieblingsserie »Supernatural« verbringen und dann hoffentlich einfach aufgrund eines Zuckerschocks einschlafen. Soweit ich wusste, hatte ich in meinem Zimmer noch Donuts.
Mit dem Schlüssel in der einen und dem Kaffee in der anderen Hand, öffnete ich etwas umständlich die große Glastür, welche in das Innere des Wohnheims führte. Bevor mir allerdings die Tasche von der Schulter rutschen konnte, griff eine Person danach und zog diese gerade wieder auf meine Schulter hoch. Soeben wollte ich mich dankend umdrehen, als ich in meiner Bewegung stockte und die Augen aufriss.
»Was willst du hier?«, fragte ich monoton und betrachtete meinen Exfreund, der vor mir stand.
»Amy, bitte lass uns drüber sprechen. Ich liebe dich. Ich will das mit uns nicht verlieren«, bettelte er, aber ich schüttelte den Kopf. »Du hast das mit uns schon vor zwei Monaten verloren, erinnerst du dich? Da hast du angefangen mit anderen Frauen dein Vergnügen zu haben«, spuckte ich aus und drückte die Tür mit dem Fuß weiter auf.
Dave fuhr sich verzweifelt durch die Haare, wodurch die hellen Strähnen in alle Richtungen abstanden. Dunkle Augenringe zeichneten sich in seinem Gesicht ab. Er sah völlig fertig aus. Aber da, wo früher Sorge um ihn in mir aufgekommen war, spürte ich nur noch Wut. Er bedeutete mir nichts mehr und dass ich so schnell den Entschluss gefasst hatte, ließ in mir das Gefühl aufsteigen, dass Dave mir schon länger nicht mehr das bedeutet hatte, wie zu Beginn unserer Beziehung.
»Vielleicht hast du die Vorstellung einer Freundin geliebt, aber nicht mich. Denn wenn du es wirklich tun würdest, hättest du mich nicht so behandelt und so hintergangen. Ich habe dir gestern schon gesagt, dass ich dich nicht mehr sehen will. Akzeptiere das bitte.«
Ich versuchte, meine Stimme ruhig zu halten, sodass sie sich nicht überschlug. Ich trat einen Schritt weiter in das Gebäude, mein Blick noch auf ihn gerichtet. Er klappte den Mund auf, um etwas zu erwidern, aber kein Wort verließ seine Lippen. Er wusste nichts zu sagen. Natürlich nicht, denn es gab einfach nichts. Ich ließ die Türe hinter mir ins Schloss fallen.
Einen letzten Moment sah ich ihn noch an. Den Mann, den ich sechs Jahre lang geliebt hatte oder den ich geglaubt hatte zu lieben.
Mit dem ich aufgewachsen war.
Dem ich vertraut hatte.
Der mir das Herz gebrochen hatte.
Dann ging ich.
Ich steuerte direkt auf die Aufzüge zu. Dave konnte mir nicht in das Innere folgen, dafür hatte er keinen Schlüssel.
Als sich die Aufzugtür öffnete, glitt ich hinein und bevor sich die Türen wieder schließen konnten, sprang noch die Wohnheimleiterin Mrs. Cooper mit hinein. Mit einem Klemmbrett in der Hand und der Brille tief auf der Nase sah sie mich an.
»Amy Jackson, richtig?« fragte sie und ich nickte rasch. »Sie bekommen am Montag eine neue Mitbewohnerin, sie musste das Zimmer wechseln. Es wäre schön, wenn Sie sie empfangen könnten.«
»Mach ich, Mrs. Cooper«, erwiderte ich und verließ den Aufzug, als die Tür im zweiten Stock wieder aufging. Kurz verabschiedete ich mich von ihr und lief zu meinem Zimmer.
Mit meinem Kaffee und den letzten zwei Donuts setzte ich mich auf mein Bett, stellte den Laptop vor mich und klickte die nächste Folge an.
Das Gedankenkarussell in meinem Kopf beruhigte sich etwas.
Seufzend lehnte ich mich in den Kissenberg hinter mich.
Worauf ich mich jetzt nur noch konzentrieren wollte, war die Monsterjagd mit Sam und Dean.
»Meine Lieblingsschwester!«, stieß Wesley freudig aus, als er aus seinem Wohnkomplex heraustrat und die Baseball Cap tiefer ins Gesicht zog. Wesley war gerade mal drei Jahre älter als ich und war vor einer Weile in eine gemütliche Zwei-Zimmer-Wohnung in der Nähe seines Arbeitsplatzes gezogen.
»Du hast nur eine Schwester, Wes.« Ich verdrehte lächelnd die Augen und stieß mich von meinem Wagen ab, ehe ich die Arme ausbreitete. Wes umfing mich mit seinen Armen und drückte mich an seine breite Brust.
»Ich weiß. Trotzdem …«, murmelte er mir ins Haar und strich mir einmal kurz über den Kopf, als wäre ich ein Welpe oder sowas.
»Wie geht es dir, Sis?«, fragte er, nachdem wir uns wieder gelöst hatten.
»So weit, so gut«, antwortete ich ihm knapp, stieg hinters Steuer und schloss die Tür. »Wie sieht’s bei dir aus?«
Wesley zuckte mit den Schultern. »Kann mich nicht beklagen, ich habe ein paar Überstunden gemacht, sodass ich Montag und Dienstag frei bekommen habe.«
Ich setzte den Blinker und fädelte mich wieder in den Verkehr rein, von Wesleys Wohnung aus waren es nur noch knapp fünfzehn Minuten bis zu Dad.
»Weißt du, ob Miles den Aufnahmetest bestanden hat?«
Stimmt ja, Miles hatte letzten Sonntag erzählt, dass er sich für ein Stelle als Chemie Assistent an seinem College beworben hatte. Allerdings hatte ich diese Woche kaum mit meinen Brüdern gesprochen. Ich war wirklich eine tolle Schwester.
»Äh … nein nicht wirklich. Ich hatte wegen der Uni ziemlich viel um die Ohren.« Ich warf Wes einen kurzen Blick zu. Er hatte die Cap mittlerweile verkehrt herum auf den Kopf gesetzt.
»Ich hab’s auch irgendwie verpeilt, hoffentlich ist der nachher nicht wieder so angepisst.«
»Wes«, seufzte ich und warf ihm einen bösen Blick zu.
»Was denn?« Er zuckte wieder mit den Schultern.
»Miles hat bestimmt Verständnis dafür«, meinte ich und nahm die nächste Abfahrt, dann bogen wir an der nächsten Ampel links ab und in den kleinen Ort etwas weiter außerhalb von Phoenix. Hier stand unser altes Haus, in welchem wir alle groß geworden waren.
»Wie läuft es denn in der Uni?«, wollte mein Bruder wissen.
»Ganz gut, schätze ich. Ich konnte alle Abgabetermine einhalten und die Prüfungen habe ich auch bestanden, zwar nicht mit Bestnoten, aber immerhin bestanden.« Wesley grinste.
Wir bogen auf einen breiten Schotterweg ab und es dauerte nicht mehr lange, dann erstreckte sich schon das Haus vor uns. Ich parkte auf dem großen Hof davor und stellte den Motor aus.
»Und wie läuft es mit Dave?«, fragte er beiläufig, als ich den Schlüssel ab- und die Handbremse anzog. Kurz hielt ich in meiner Bewegung inne und warf ihm einen Blick zu. Hatte er etwa schon irgendetwas vermutet? Sonst fragen die Jungs nie nach ihm.
Wes stieg aus und ich ließ die Frage einfach unbeantwortet, während ich auch meine Tür öffnete und aus dem Wagen hüpfte.
»Amy?«, fragte Wes und sah mich ernst an, eine Augenbraue in die Höhe gezogen.
Seufzend wedelte ich mit der Hand Richtung Tür. »Lass uns reingehen.«
»Amy«, wiederholte er und sein Ausdruck wurde noch ernster.
»Lass uns später drüber reden, ok?« In der Hoffnung, dem Gespräch vorerst ausgewichen zu sein, ging ich zur Veranda.
Wesley trat auf mich zu und packte mich am Ellenbogen. Ich richtete den Blick nach unten, vermied es ihm ins Gesicht zu sehen.
»Hat er dir etwas angetan, Amy-Baby?«, flüsterte er rau. Ich bemerkte, wie seine Augen über jedes freie Stück Haut wanderten, anscheinend nach blauen Flecken oder ähnlichem suchten.
Alarmierend riss ich den Kopf hoch. »Nein, nein also er hat mir nicht … körperlich wehgetan«, stotterte ich und sah sofort wieder zu der grünen Eingangstür, an welcher die Farbe schon langsam abblätterte.
Wes zog die Augenbrauen zusammen und seufzte leise. »Na schön. Aber das Thema ist noch nicht durch«, erwiderte er und lief an mir vorbei, wir gingen die wenigen Stufen nach oben und öffneten die Haustür.
Der Geruch von frisch gebratenem Bacon und Spiegeleiern erfüllte das Haus.
Außerdem konnte ich definitiv Pancakes riechen – mmh, lecker.
Das Frühstück, oder eher der Brunch, bei Dad war einfach das Beste. Er stand immer schon ganz früh auf und fing an alles vorzubereiten. Sogar die Marmelade machte Dad mittlerweile selbst.
Nachdem Dad auf der Arbeit einen Unfall erlitten hatte und seinen eigentlichen Beruf nicht mehr ausüben konnte, verbrachte er viel Zeit zuhause. Das Haus war abbezahlt. Wir hatten ein riesiges Grundstück und er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, dieses zu hüten und zu pflegen. Außerdem gab er den Nachbarskindern Klavierunterricht, er verkaufte seine Marmelade und was er sonst noch so auf dem Hof anpflanzen konnte.
Wesley und ich hingen unsere Jacken an die Garderobe direkt neben der Tür.
»Hallo, Dad.« Wes betrat als Erster die Küche. Dad stand am Herd und legte gerade den letzten Bacon-Streifen auf ein Stück der Küchenrolle. Er hatte seine Schürze an, welche Miles ihm vor ein paar Jahren geschenkt hatte, auf welcher stand: Best Dad and Cook.
»Wesley!«, strahlend drehte er sich zu uns um und die beiden umarmten sich. Ich kam ein Stück näher und meine Lippen verzogen sich zu einem breiten Lächeln, als sich die beiden lösten und Dad zu mir blickte.
»Meine kleine Amy, komm her und lass dich von deinem Paps drücken.«
Ich schloss die Arme um seine Hüften und drückte mein Gesicht gegen seine Brust, inhalierte den Duft nach Zuhause und Wärme.
»Wie geht es dir, Daddy? Was macht die Hüfte?«, fragte ich leise und drückte ihn ein weiteres Mal fest, ehe er mich von sich weghielt und mir ins Gesicht blickte.
»Deinem alten Herrn geht es gut. Du musst dir keine Sorgen um mich machen«, lächelnd strich er mir durch den Pony.
»Du wirst immer erwachsener«, sprach er und ich verdrehte grinsend die Augen.
»Dad, wir haben uns erst vor einer Woche gesehen.« Er streckte mir die Zunge raus und ich musste lachen. Dann drehte er sich wieder zu dem Speck um.
»Sei so gut und nimm den mit zum Tisch, ja?« Nickend griff ich nach einem Teller und legte den Speck von der Küchenrolle darauf.
Im Wohnzimmer saßen bereits Miles und Connor, auch Wesley hatte sich schon auf seinen Platz niedergelassen.
»Hallo, Jungs«, sagte ich und stellte den Teller ab.
»Amy-Baby«, sagte Connor und zog mich an der Hüfte zu sich. Ich beugte mich runter und drückte ihn kurz, bevor ich dasselbe bei Miles machte. Dann nahm ich auf der gegenüberliegenden Seite von ihnen und damit neben Wesley Platz.
»Wie lief es mit der Stelle, Miles?«, fragte ich und stieß Wes leicht in die Seite, damit er seine Aufmerksamkeit von dem Etikett der Marmelade auf unseren Bruder richtete, welcher direkt vor mir saß.
Miles‹ Augen fingen an zu leuchten und seine Mundwinkel zuckten. »Perfekt, sie haben mich genommen. Ich bin jetzt Assistent und verdiene mir nicht nur ein paar extra Credits dazu, sondern bekomme auch noch ein gutes Gehalt.«
Sein Lächeln steckte mich an.
Miles war nur fünfzehn Monate älter als ich und definitiv der Schlaue von uns vieren. Außerdem war er der Einzige, der die braunen Locken unseres Vaters geerbt hatte, welche sich auf seinem Kopf türmten. Er brauchte dringend mal wieder einen Haarschnitt.
Eine Traube flog in meine Richtung und landete ein gutes Stück neben meinem Teller. Mit gerunzelter Stirn sah ich zu Connor hinüber.
»Warum siehst du so müde aus?«, fragte er und kniff die Augen zusammen. Wesley lehnte sich neben mir tiefer in seinen Sitz hinein und verschränkte die Arme.
»Mir geht’s gut, hab nur viel mit dem Studium zu tun«, beantwortete ich seine Frage und sah auf, als Dad an den Tisch trat und den Korb mit den Brötchen abstellte. Er setzte sich an das Kopfende des Tischs und damit an meine rechte Seite.
Wir fingen an zu essen und für einen Moment war jeder mit seinen eigenen Dingen beschäftigt. In mir wuchs die Hoffnung, dass meine Brüder mich nicht nochmal auf meinen müden Anblick ansprachen und dass Wesley mich nicht erneut an das Thema Dave erinnern würde.
»Welches Werk behandelt ihr denn gerade, Schätzchen?« Dad sah mich interessiert an und ich legte die Gabel beiseite.
»Wir haben in Literatur gerade ›Oliver Twist‹ durchgenommen, außerdem befassen wir uns viel mit rhetorischen Mitteln«, antwortete ich lächelnd. Dad sah zufrieden aus. »Also bist du immer noch mit deiner Wahl glücklich?«
Sofort nickte ich. »Sogar sehr.«
»Und die Universität ist auch gut? Der Campus, die Dozenten und so weiter?«
»Ja Dad, alles ist ganz toll.« Ich blickte wieder auf mein Stück Spiegelei und schob mir eine weitere Portion in den Mund.
Miles sah mich einen Moment zu lang an und ich blickte ihn mit einem verwirrten Blick entgegen, aber er schüttelte nur den Kopf.
»Und bei dir Connor? Hat der Deal geklappt?«, richtete sich Dad jetzt an unseren ältesten Bruder. Connor war schlank und der größte von uns vieren. Allerdings hatten die Jungs alle bezüglich des Körperbaus die Gene von Dad geerbt, welche eine breite Brust versprachen.
»Ja, es hat zwar ziemliche Überzeugungskraft gebraucht, aber den neuen Partner haben wir jetzt bei der Versicherung auch unterm Hut«, antwortete Connor. Dad nickte wieder zufrieden.
Dann besprachen wir noch ein paar eher unwichtige Themen. Die Reparatur von Wesleys Auto, meine neue Mitbewohnerin, die ich morgen kennenlernen würde, und Miles erste Tage als neuer Assistent. Als sich das Frühstück langsam zum Ende neigte, streckte Wes den Arm auf meiner Stuhllehne aus und kniff mir in den Oberarm.
»Aua, was soll das, Wes?«, zischte ich und rieb mir über den Stoff am Arm.
»Du denkst doch nicht, dass ich das Thema einfach so unter den Tisch fallen lasse, oder?«
»Welches Thema?«, mischte sich Miles unmittelbar ein und strich sich durch die Locken, welche aber beinahe sofort wieder in seine Stirn fielen.
»Das würde mich auch mal interessieren«, sprach Connor und beugte sich nach vorne, stütze die Arme an der Tischkante ab.
»Komm schon, raus mit der Sprache«, sagte Wes erneut und zog an einer meiner kastanienfarbenen Haarsträhnen. Ich sah nach oben zu meinem Pony und stieß die angehaltene Luft aus. Ein paar Strähnen flogen hoch.
Ich musterte meine drei Brüder und warf meinen Dad einen kurzen unsicheren Blick zu. Wenn ich die Bombe gleich einfach so platzen ließe, würde Tumult ausbrechen und ich hatte wenig Lust auf weiteres Drama.
Momentan war mein Bedarf eigentlich schon gedeckt – danke auch.
»Was ist los, Amy? Geht es dir gut? Ist mit dem Studium alles okay? Mit Dave?«, fragte Dad sanft und legte eine seiner großen, gebräunten Hände auf meine. Ich sah ihn an, registrierte die graumelierten Haare und die wenigen Falten auf seinem Gesicht. Seine grünen Augen stachen hervor und liebevoll betrachtete er mich. Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen und verdammte mich in diesem Moment dafür, so sentimental zu sein.
Dads Gesichtsausdruck wurde härter und er drückte mir fester die Hand.
»Amy«, murmelte er und eine Träne lief mir an der Wange herunter.
Ich sah ihn weiterhin an, als die nächsten Worte meinen Mund verließen.
»Er hat mich betrogen. Dave und ich … wir … also wir sind nicht mehr zusammen«, stammelte ich. Dad sah mich erstaunt an und ich spürte, wie Wesley neben mir aus seinem Sitz schoss. Connor tat es ihm nach.
»Wie bitte?«, rief er. Miles sah mich mit einem mitleidigen Blick an, aber auch seine Stirn lag in Falten. Er erhob sich und umrundete den Tisch, kam auf meine Seite und legte die Hand auf meine Schulter.
»Der Typ ist tot. Ich murkse den ab, ich schwöre es«, stieß Wesley laut aus und ich hörte das Knacken seiner Knöchel – ein ekelhaftes Geräusch.
»Geht’s dir gut?«, fragte Miles leise und ich nickte sofort, dann dachte ich kurz nach und schüttelte doch den Kopf.
»Ich weiß es ehrlich gesagt nicht«, nuschelte ich und spürte, wie Miles mich von meinem Platz hochzog und an sich drückte. Ich wusste, dass Dave mir noch etwas bedeutete. Auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte und versuchte, das alles zu verdrängen und herunterzuschlucken.
Liebte ich ihn noch? Ich wusste es nicht.
Aber er hatte mich verletzt, zutiefst verletzt und das schmerzte mehr als alles andere.
»Wie hast du es erfahren? Hast du ihn erwischt?«, murmelte Connor und seine Stimme hatte etwas Raues und Bedrohliches.
Ich drehte den Kopf an Miles Brust und sah zu Connor, welcher hinter seinem Stuhl stand und die Rückenlehne umfasste.
»Am Freitag auf einer Verbindungsparty habe ich ihn mit einer anderen gesehen.« Die Einzelheiten ersparte ich ihnen. Und ersparte mir, darüber zu sprechen.
Connor stieß sich von dem Stuhl ab und verschränkte die Hände im Nacken.
»Ich bin froh, dass er weg ist. Ich habe ihn eh nie gemocht«, sagte Miles leise und drückte mich wieder an sich, in diesem Moment dankte ich Gott, dass wenigstens einer meiner Brüder eher milder und rationaler war – zumindest im Vergleich zu den anderen.
»Wir mochten ihn alle nie, er war schon immer ein Arsch. Und bald ist er ein toter Arsch«, kam von Wesley. Ich löste mich von meinem jüngsten Bruder und sah zu Wesley hinüber.
»Ich möchte, dass ihr gar nichts tut. Es ist vorbei. Ich habe ihm deutlich gemacht, dass er mich in Ruhe lassen soll und ich wünsche mir, dass ihr ihn auch einfach in Ruhe lasst.«
Aufgebracht fuhr Wes sich durch die Haare und setzte die Cap dann wieder gerade auf.
»Kleine, das kannst du nicht von mir verlangen«, sagte er. Doch ich nickte nochmal nachdrücklich.
»Doch kann ich, bitte respektiert das. Ich möchte gar nicht mehr über ihn nachdenken oder sprechen. Ich will nur noch mit dieser Sache abschließen.« Ich wischte mir die Wangen trocken, nachdem keine Tränen mehr aus meinen Augen traten.
»Jungs, wie wäre es, wenn ihr den Tisch abräumt und ich gehe mit eurer Schwester in den Wintergarten«, sagte jetzt Dad und ich drehte mich zu ihm um.
»Aber Dad!«, zischte Connor, doch der schüttelte den Kopf. »Tut, was ich euch gesagt habe.«
Dad legte mir eine Hand auf den Rücken und schob mich auf die Glastür zu, welche zu dem Wintergarten hinterm Haus führte.
Wir nahmen an einem großen Gartentisch Platz, Dad setzte sich mir gegenüber.
»Ich werde jetzt einfach so tun, als hätten wir ernsthaft über diese Sache gesprochen, damit deine Brüder das Thema fallen lassen, okay?«, schlug er vor und ich nickte.
»Ich finde zwar auch, dass Dave ordentlich eine verpasst gehört, aber uns steht diese Entscheidung nicht zu. Wenn du also mit dem Thema abschließen möchtest, dann werden deine Brüder gar nichts machen«, fuhr er fort und wieder nickte ich.
»Danke, Dad«, nuschelte ich. Dad griff nach meiner Hand und zog sie zu sich.
»Du bist die kleine Schwester der drei, sie werden sich immer etwas chaotisch und beschützerisch aufführen. Du hast leider das Los des jüngsten Familienmitgliedes gezogen.« Tröstend strich er mir über den Handrücken.
»So schlimm ist es eigentlich gar nicht«, murmelte ich und versuchte mich an einem Lächeln.
»Trotzdem … wenn er dich belästigt oder einfach nicht in Ruhe lässt, dann rufst du entweder mich oder einen deiner Brüder an, verstanden?«
»Jawohl, Dad« erwiderte ich.
»Okay, gut.« Er sah mir fest in die Augen, seine Daumen glitten weiterhin über meine Hand »Außerdem hat dich das Arschloch nicht verdient«, fluchte er leise und ich riss die Augen auf. Normalerweise benutzte Dad solche Worte nicht.
»Dad«, hauchte ich überrascht, aber er grinste nur. »Was denn?«
Er warf einen Blick durch die Glasscheibe und sah dann wieder zu mir. »Ich denke, sie sind jetzt fertig mit aufräumen, lass uns wieder rein«, sagte er und wir erhoben uns von unseren Plätzen.
»Ich hab dich lieb.«
Dad legte die Arme um meine Schulter und drückte mich feste.
»Und ich dich erst.«
»Hey Mann, komm rein.« Cole öffnete die Wohnungstüre noch ein Stück weiter und ich trat ein. Hazel war nicht zu sehen, aber ich würde darauf tippen, dass sie im Schlafzimmer war und die Sachen von ihrem Trip wieder auspackte.
»Wie war es in Las Vegas?«, fragte ich und setzte mich auf die Couch, welche seitlich vor der offenen Küche stand.
»Ganz gut. Hazels Mom ist richtig gut drauf gewesen und sie wirkte fast schon wie ein anderer Mensch«, antwortete er und zog zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank, hielt sie fragend hoch. Ich nickte und er öffnete sie, ehe er auf mich zu kam und am anderen Ende der Couch platznahm.
»Und wie geht es ihr?« Ich nippte an der Flasche.
»Sehr gut, es ist eine große Entlastung für sie und jetzt kann sie sich endlich auf ihr eigenes Leben konzentrieren, auf die wichtigen Sachen.«
»Du meinst auf dich?«
Grinsend schüttelte er den Kopf und verdrehte die Augen.
»Wie hast du dich in der neuen Wohnung eingelebt?«, fragte er.
Ich war vor knapp zwei Wochen in das Apartment gegenüber der beiden eingezogen. Viel länger hatte ich es einfach nicht in dem Wohnheim ausgehalten und auf meinem Konto hatte sich ein gutes Polster gebildet, sodass ich es mir auch leisten konnte. Allerdings war meine Wohnung etwas größer als die der beiden, ich hatte ein Zimmer mehr und Leith überlegte schon, ob er bald ebenfalls aus dem Wohnheim auszog und wir eine WG gründeten.
»Bestens. Ashley hat mir beim Umziehen und Dekorieren geholfen.« Meine ältere Schwester Ashley war seit letztem Jahr mit ihrem langjährigen Freund Malcolm verheiratet und war am Tag meines Auszuges mit ihm und einem riesigen SUV hergekommen, um meine Sachen zu transportieren.
Die Tür zum Schlafzimmer öffnete sich und Hazel trat in einem dicken Rollkragenpullover und schwarzen Leggings heraus, die kupferfarbenen Haare nach oben gesteckt.
»Hi Ethan«, flötete sie und brachte zwei Tassen zur Spüle. Danach ließ sie sich auf den Sessel zu meiner rechten fallen. »Wie war die Party am Freitag? Tut mir leid, dass wir sie verpasst haben«, meinte sie und ich nahm einen weiteren Schluck vom Bier.
»So viel habt ihr gar nicht verpasst, es waren eine Menge Leute da. Leith und Kade haben sich ziemlich betrunken und so um die fünfzig Mäuse verloren, als sie auf sich selbst beim Beer Pong gewettet haben.« Ich grinste.
»Nur Leith und Kade waren betrunken?« Cole beugte sich vor und betrachtete mich interessiert. »Benny und Lilly waren nicht da, ich glaube die beiden waren über das Wochenende auch weg.«
»Ja, Lilly hat erwähnt, dass sie übers Wochenende zu ihren Eltern fahren«, erinnerte sich Hazel.
Cole schüttelte den Kopf. »Das meine ich nicht, was war mit dir? Sonst bist du doch der Erste, der sich in die Menge stürzt.«
Ich stutze kurz und sah ihn an. »Ja, so war es auch«, murmelte ich. Er kniff die Augen zusammen und betrachtete mich einen Moment scharf.
»Was erzählst du uns nicht?«, sagte er und ich seufzte, ließ den Kopf nach hinten gegen die Couchlehne fallen und starrte an die Decke.
»Oh! Den Blick kenne ich«, stieß Hazel aus und ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem breiten Lächeln.
Cole runzelte die Stirn. »Ja? Und woher?«
Hazel stand vom Sessel auf und trat einen Schritt auf mich zu, um mir besser ins Gesicht zu sehen. »Jap. So habe ich auch ausgesehen, nachdem ich dich zum ersten Mal getroffen hatte«, bemerkte sie und lächelte Cole sanft an.
»Was zum Teufel?«, rief Cole und rückte näher an mich. »Wen hast du kennengelernt?« Ungläubig sah er mich an.
Ich seufzte erneut und richtete mich wieder gerade auf, als Hazel in die offene Küche ging.
»Niemanden! Zumindest nicht so, wie es Hazel impliziert«, sagte ich etwas lauter, damit sie es auch noch von der Küche aus hören konnte. Grinsend zuckte sie nur mit den Schultern und goss sich ein Glas Eistee ein.
»Red dir das nur selbst weiter ein«, sagte sie eher zu sich selbst, aber ich hörte sie dennoch.
»Alter, hast du dich verliebt?«, fragte Cole vorsichtig und blickte mich weiterhin forschend an.
»Was? Nein? Auf gar keinen Fall. Sie hat einfach nur Hilfe gebraucht und die habe ich ihr gegeben«, sagte ich schnell und setzte die Flaschenöffnung wieder am Mund an.
»Und wem hast du geholfen?«, schmunzelte Hazel. Sie setzte sich wieder und zog die Füße unter sich an.
»Amy«, murmelte ich und schluckte. Keine Ahnung, warum es mir so viel ausmachte, was meine Freunde über die Sache dachten. Amy wollte mir seit Freitag nicht mehr aus dem Kopf, aber mehr war da nicht. Ich verliebte mich nicht einfach so. Dafür war ich gar nicht geschaffen. Ich bemerkte, wie es in Hazels Kopf ratterte.
»Amy? Die von der Party letztens? Mit dem braunen Haaren und dem Fransenpony?«
Ich nickte Hazel zu. »Jap, genau die. Sie hat gestern weinend vor dem Verbindungshaus gesessen, sie hat ihren Freund beim Fremdgehen erwischt.«
»Oh je, die Arme«, sagte Hazel und warf Cole einen kurzen Blick zu, auf welchen er ihr sanft zurück lächelte und sich erhob.
»Willst du noch eins?«, fragte er und sah auf meine Bierflasche. Ich schüttelte den Kopf.
Als er zurückkam – jetzt ebenfalls mit einem Glas Eistee –, ließ er sich auf die Lehne von Hazels Sessel fallen und legt ihr die Hand auf den Rücken.
»Also hast du ihr an diesen Abend geholfen und das war’s?« Seine Augen waren aufmerksam auf mich gerichtet.
»Genau, ich habe sie etwas getröstet und sie dann ins Wohnheim gefahren. Das war’s.«
»Und seitdem nicht mehr gesehen?«
»Nein.« Ich erhob mich von meinem Platz. »Ich werde dann mal wieder gehen.«
Cole hörte auf über Hazels Rücken zu streicheln und stand ebenfalls auf.
»Bleib doch noch. Benny und Lilly wollten später noch vorbeikommen und wir wollten den MMA Fight ansehen.«
Bei der Vorstellung, meinem Abend mit zwei Pärchen, statt mit meiner eigenen Couch und einem Horrorfilm zu verbringen, verzog ich das Gesicht.
»Lass mal, ich wollte heute Abend sowieso noch Mom anrufen«, meinte ich. Es war zwar keine Lüge, denn ich würde es tun, nur hatte ich es bis vor drei Sekunden noch nicht wirklich vorgehabt.
»Alles klar.« Cole klopfte mir auf die Schulter und brachte mich zur Tür. Im Vorbeigehen drückte ich Hazel kurz die Schulter.
»Denk dran, dass wir nächsten Freitag bei Kades Spiel sind«, sagte ich und öffnete die Wohnungstür.
»Weiß ich, Hazel freut sich schon total. Sie hat noch nie ein Football Spiel gesehen.«
Seine Augen zeigten wieder dieses Funkeln, welches jedes Mal auftrat, wenn er von ihr sprach. Ich will nie, dass mir so etwas auch passiert. Nie wieder.
»Wir können ja zusammen hingehen«, schlug ich vor und schob die Hände in die Hosentaschen.
»Klingt gut. Außerdem hat Jason am Sonntag einen Fight, wenn du mitkommen willst, besorge ich dir Karten.«
»Ich geb dir noch Bescheid.« Ich nickte ihm ein letztes Mal zu und drehte mich um, ging an dem Treppengeländer vorbei und auf die andere Seite des breiten Flures.
Nachdem ich in meine Wohnung eingetreten war, legte ich die Schlüssel auf die Küchenzeile und zog mir die Stiefel von den Füßen.
Ich hatte bestimmt noch eine Tiefkühlpizza, welche ich in den Ofen schieben konnte.
Während die Pizza im Ofen schmorte, schaltete ich meinen Fernseher an und suchte den nächstbesten Horrorfilm bei einem Streaming-Anbieter raus.
Wieder schossen mir Amys grüne Augen in den Kopf und wie rot sie vom vielen Weinen waren. Ihre Wangen, die sich ebenfalls rötlich verfärbt hatten, obwohl ich nicht mehr wirklich wusste, ob das wegen Scham oder wegen des Reibens über ihr tränenüberflutetes Gesicht war.
Sie hatte mich überrascht, als sie auf meinen blöden Witz tatsächlich eingegangen war und ich sie geküsst hatte. Zunächst hatte ich das nur als Spaß gesagt, ich wollte sie aufheitern und ihr ein Lächeln entlocken. Als sie mir dann aber zugestimmt hatte, wusste ich nicht, was mich dazu bewegt hatte sie so schnell zu küssen. So schnell ihren Mund in Beschlag zu nehmen.
Aber es hatte mir gefallen. Und wie es mir gefallen hatte.
Ihre Lippen hatten sich viel zu gut auf meinen angefühlt.
Wie in Trance strich ich mir über die Unterlippe.
Rasch sprang ich auf die Füße und zog meine Hand von den Lippen weg.
Ich benahm mich lächerlich.
Es war ein gottverdammter Kuss und es war sicherlich nicht die erste Frau gewesen, die ich geküsst hatte.
Ja, es hatte sich verdammt gut angefühlt und ja, ich würde es jederzeit wieder machen, aber diese Gedanken hatte ich bei anderen auch.
Amy war nichts Besonderes gewesen.
Zumindest musste ich das einfach nur in meinen Kopf kriegen.